Was ist denn da in Polen los?

Der folgende Beitrag wurde in abgestimmter gekürzter Form  im Weser-Kurier Bremen unter dem Titel “Polen ist so schön und vielfältig wie noch nie” am 27.03.2018 veröffentlicht. Die gekürzten Stellen wurden markiert.

Schon die Art der Frage ärgert mich. Ich mag nämlich unser zweitgrößtes Nachbarland mit seinen lieben, gastfreundlichen, fleißigen und engagierten Menschen, ihrem ausgeprägten Familiensinn und ihrem Temperament, mit ihrem Wunsch, über alles aus verschiedenen Sichtweisen heraus zu diskutieren und ungeduldig zu hinterfragen. Polen war, ist und bleibt für mich ein Land der Vielfalt.

Doch zur Sache: Zu den letzten Parlamentswahlen und Präsidentschaftswahlen 2015 ist die Hälfte aller Polen nicht hingegangen. Es war ihnen eigentlich egal, wer als nächstes in Warschau Kasse macht oder Pöstchen bis hin nach Brüssel besetzt, solange sie in Ihrem täglichen Leben in Ruhe gelassen werden. Nur „Recht und Gerechtigkeit“ (polnisch PIS) gelang es, ihre Wähler zu mobilisieren und so mit den Stimmen von etwa 19% der Wahlberechtigten die absolute Mehrheit im Parlament zu sichern. Wenn wir uns im eigenen Land und in den anderen „EU-Seniorenländern“ umschauen, ist dieser Trend nichts Außergewöhnliches. „Recht und Gerechtigkeit“ holte dann als erstes längst überfällige Sozialreformen nach: Kindergeld (ab 2. Kind) von etwa 120 EUR, Erhöhung der gesetzlichen Minimallöhne, Wohnungsbauprogramm. Dabei würde ich wiederum so etwas wie „sich kaufen lassen“ nicht gelten lassen, denn die Geburtenrate in Polen ist von etwa 2,1 Kinder pro Frau 1990 auf fast 1,3 Kinder  2015 gesunken und lag damit sogar unter der in Deutschland.

In seiner Argumentation gibt sich „Recht und Gerechtigkeit“ hart antikommunistisch. Ich selbst fühle mich allerdings, was die Methoden und Argumente, insbesondere was Feindbilder und „antipolnische Aktivitäten“ betrifft, oft in die Jahre von Gomulka und Gierek zurückversetzt. Es bedarf da auch keiner Zensur – denn wer nicht ins Konzept passt, bekommt kaum noch Mittel.

Und siehe da, die Politik von PIS hat auch in Deutschland Erfolg, denn viele deutsche Medien reagieren, wie man in Bremen sagen würde, mehr buten als binnen. Sie nehmen nicht zur Kenntnis, was die Polen – als zur Gruppe der 25 weltgrößten Volkswirtschaften  gehörend – mit einem seit nunmehr 20 Jahren anhaltendenden traumhaften Wirtschaftswachstum von 4% jährlich erreicht haben. Sie geben einigen politischen Schwergewichten auf der anderen Seite durch oberflächliche Recherchen oder plumpes Wiederholen immer neue Argumente. Ich habe manchmal den Eindruck, in einigen Redaktionen ist eine seit Generationen vererbte Allergie wieder ausgebrochen, zwar keine Pollen- sondern eine Polen-Allergie. Es wundert deshalb nicht, dass die etwa 30.000 polnisch-sprachigen Bremer oft unsichtbar erscheinen.  Und das ist wirklich schade! Denn Polen ist im 100. Jahr der wiedererlangten Unabhängigkeit so schön und so vielfältig wie noch nie in seiner Geschichte.

Dabei hätten die Polen im Land der Solidarność durchaus das Zeug, den europäischen Trend nach rechts als erste zu stoppen: In Polen sind im Herbst 2018 Wahlen zu den Regionalvertretungen, von denen heute 2/3 von der Opposition geleitet werden und im Jahr darauf auch wieder Parlamentswahlen. Auch wenn heutige Umfragen nicht immer für einen Wechsel in Warschau stimmen, wir wissen: Umfragen sind eben nur Umfragen. Aber da sind z.B. die erfolgreichen Aktionen der polnischen Frauen, denn auch sie begehen wie in Deutschland in diesem Jahr 100 Jahre Frauenwahlrecht und der ungebändigte polnische Freiheitswille, in dem alle schöpferischen Menschen in Polen ihre Vielfalt behaupten.

Deshalb freue ich mich in den kommenden Wochen auf die vielen Konzerte polnischer Jazzmusiker von Weltrang, die Ausstellung moderner polnischer Kunst in der Weserburg, aber auch die Vorträge und Diskussionen über Menschen aus Polen in Deutschland und über die aktuelle Kunstszene in Polen (in der Bürgerschaft), denn Polen ist diesjähriges Partnerland des jazzahead! Festivals vom 6.-22. April in Bremen.  Wir lassen unsere Gäste dann auch spüren, dass sie Freunde in Bremen haben, auf die sie sich verlassen können, unabhängig davon, wie einige Hardliner agieren. In ganz Bremen – und nicht nur im Radio – gilt dann mit Sicherheit: „Neugier lohnt sich“!

Uwe Metschke